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Ich fuhr mit dem Fingernagel über Andies Rücken
nach unten. »Nicht.« Sie erschauderte und rutschte nah zu mir
heran. Ich
hatte die ganze Nacht nachgedacht. Seit meinem Gespräch
mit
Steve Bushnagel. In der realen Welt, das wusste ich, hätte
ich
Remlikov verhaftet und das Verhör geleitet. Er hätte
Cavello
verraten, den ich mir geschnappt hätte. Das wäre meine
Aufgabe
gewesen. Allerdings war die »reale Welt« in letzter Zeit
viel
komplizierter geworden.
Wieder ließ ich meine Finger über Andies Rücken gleiten.
Diesmal drehte sie sich zu mir um und stützte sich auf
einem
Arm ab. Sie merkte, dass etwas nicht stimmte. »Was ist
denn
los?«
»Könnte sein, dass ich eine Spur habe«, begann ich. »Zu
dem
Mann, der den Bus in die Luft gejagt hat.«
Andie setzte sich auf. Die Müdigkeit war aus ihren Augen
verschwunden. »Wovon redest du, Nick?«
»Ich zeig’s dir.«
Ich griff zu dem Schnellhefter, der auf dem Nachttisch
lag,
und breitete mehrere Schwarzweißfotos auf der Bettdecke
aus:
die Fotos vom Heimatschutz von Kolya Remlikov und diejenigen, die
mir Yuri Plakhov geschickt hatte.
»Er heißt Remlikov«, erklärte ich. »Er ist Russe und ein
bezahlter Mörder. Zudem ein besonders guter. Er hat einen
sehr
blutigen Lebenslauf. Ich glaube, Cavello ist über die Russenmafia
an ihn geraten, und er lebt wahrscheinlich in Israel.« Andie riss
die Augen weit auf. Ich legte das Foto daneben, das
Chummie in seinem Labor manipuliert hatte und den Mann im
Fahrstuhl ohne Verkleidung zeigte. Andies Augen wurden
noch
größer. Sie nahm das Bild in die Hand und betrachtete lange
das
kantige, dunkelhäutige Gesicht.
»Wieso glaubst du, er wäre derjenige, der den Bus in die
Luft
gejagt hat?«
»Wegen dem hier.« Ich zog die beiden letzten Fotos aus
der
Mappe. Das erste war dasjenige, das ich Senil gegeben
hatte.
Aber das zweite hatte ich nach stundenlanger Suche in den
Aufnahmen der Sicherheitskameras im Gericht entdeckt. Die
Aufnahmen stammten nicht vom Tage der Flucht, sondern
waren einige Zeit vorher aufgenommen worden.
Während Cavellos erstem Prozess.
»Lass die Koteletten und die Brille weg.« Ich legte ein
aufbereitetes Bild daneben.
»O mein Gott!« Mit zusammengepressten Lippen griff sie
danach. Sie wirkte verletzt und verblüfft. Dann füllten sich
ihre
Augen mit Tränen.
»Warum hast du sie mir vorenthalten?«, fragte sie, das
Gesicht
von mir abgewandt.
»Habe ich nicht. Ich habe diese Fotos erst heute bekommen.« »Und
was passiert jetzt? Gibst du sie deinen Leuten?«, fragte
sie aufgeregt. »Sie werden ihn sich schnappen? So wird’s
doch
laufen, oder?«
»Ich weiß nicht. Könnte sein, dass es nicht so einfach ist.
Man
muss mit den Israelis Kontakt aufnehmen. Die Regierungen
schalten sich ein. Festgelegte Vorgehensweisen. Diese Art
von
Beweis ist höchst spekulativ. Fotos lassen sich
manipulieren.
Man weiß nie, was passieren wird.«
»Was heißt hier, du weißt nicht? Dieser Mann hat Bundesmarshals
getötet, und er hat Cavello zur Flucht verholfen. Er hat
einen vollbesetzten Geschworenenbus in die Luft gejagt. Er
hat
meinen Jungen getötet.«
»Ich weiß. Aber es ist kompliziert, Andie. Remlikov ist
ausländischer Bürger. Es müssen andere Regierungen
beteiligt
werden. Andere Ermittlungsbehörden. Dann müssen die
Israelis
der Auslieferung zustimmen.«
»Was redest du da, Nick?« Panik zeigte sich in ihren
Augen.
»Sie können sich diesen Kerl holen. Sie wissen, wo er ist.
Das
sind deine Leute, Nick. Was meint denn das FBI dazu?« Ich
schüttelte den Kopf und wartete eine Sekunde, bevor ich
weiterredete. »Das FBI weiß darüber noch nicht Bescheid.« Sie
blinzelte wie ein Boxer, der nach einem kräftigen Schlag
wieder einen klaren Kopf bekommen wollte. »Was redest du
da,
Nick?«, fragte sie und sah mich an, um schon in meinem
Blick
eine Antwort zu finden.
»Ich meine, ein Mann wie er würde in der Sekunde verschwinden, in
der er mitbekommt, dass jemand hinter ihm her
ist. Und in dem Moment, in dem Cavello herausfindet, dass
wir
ihm auf der Spur sind, ist er ebenfalls weg.« Mein Blick
war
klar. »Wir haben Cavello zweimal verloren. Ein drittes Mal
wird
das nicht passieren.«
Ich glaube, in dem Moment war ihr klar, worauf ich
abzielte.
Die Zornesröte verschwand aus ihrem Gesicht. Als sie mich
wieder ansah, hatte sie verstanden, was für eine Art von
Mann
ich war.
»Ich habe dir gesagt, ich würde ihn mir schnappen, Andie.« Sie
nickte. »Ich werde nicht weiter nachfragen, Nick. Du
sollst
nur wissen, dass ich dabei bin, koste es, was es wolle. Hast
du
das verstanden?«
»Die Sache muss ich alleine durchziehen«, entgegnete ich.
»In
so eine Geschichte willst du sicher nicht verwickelt werden.«
»Doch.« Andie lächelte müde. »In diesem Fall hast du Unrecht. Ich
weiß genau, was du zu tun hast, Nick. Und ich bin
bereits darin verwickelt.«
»Aber anders.« Ich würde in ein anderes Land gehen müssen
–
und mich fernab aller Gesetze bewegen.
»Auch nicht anders als hier, Nick. In jeder Hinsicht.« Sie
griff
zu Remlikovs Foto. »Ich habe meinen Sohn verloren. Ich
habe
es auch auf Cavello abgesehen.«
»Du weißt, was da drüben passieren wird? Du weißt, wovon
wir reden, Andie?«
Sie nickte. »Ja.« Dann legte sie ihren Kopf an meine
Brust.
»Ich weiß, was passieren wird, Nick. Ich bete, dass es
passieren
wird.«
»Wir brechen in zwei Tagen auf«, sagte ich.
Der schlanke Mann mit der Brille mit Schildpattgestell lehnte sich
auf der Parkbank nach hinten und blickte mich an. »Diese
Fingerabdrücke, die du mir geschickt hast – woher hast du sie?«
Charlie Harpering und ich waren alte Freunde. Wir saßen
in
Five Points, dem legendären Viertel aus Gangs
of New York, auf
einer winzigen Parkbank gegenüber vom Gericht. Charlie
hatte
viele Jahre beim FBI gearbeitet, bevor er zum
Heimatschutz
gewechselt war. Von ihm hatte ich all die Unterlagen erhalten. »1st
doch egal, woher ich sie habe. Ich muss nur wissen, ob es
eine Übereinstimmung gibt.«
Harpering sah mich lange und eindringlich an. Worum ich
ihn
bat – alle normalen Kanäle und Verfahren zu umgehen, um
mir
Informationen auszuhändigen, die er vielleicht seinem
Chef
nicht geben würde –, war viel, auch für einen Freund. »Du weißt,
dass ich damit meine wohlverdiente Pension aufs
Spiel setze.«
»Vertrau mir.« Ich warf ihm ein breites Lächeln zu. »Die
Rentenzeit wird viel zu sehr überbewertet. Das hier ist
wichtig,
Charlie. Gab es eine Übereinstimmung?«
Er stieß einen Seufzer aus, öffnete seinen Aktenkoffer
und
legte einen Ordner auf seinen Schoß. »Ja, es gab eine
Übereinstimmung.«
Er öffnete den Ordner. Zuoberst lag eine vergrößerte Aufnahme der
Fingerabdrücke, die mir Yuri Plakhov gefaxt hatte. »Sie gehören
einem Esten«, erklärte Harpering. »Stephan
Kollich. Er kam am 12. April mit einem Handelsvisum über
den
John F. Kennedy Airport ins Land.«
Am 12. April. Cavello wurde sechs Tage später aus dem
Gerichtsgebäude befreit.
Jetzt war ich mir völlig sicher. Remlikov war hier gewesen. »Du
siehst, er ist sieben Tage später wieder abgereist.« Harpering
deutete auf eine Stelle weiter unten. Ein Tag nach der
Flucht! »Nach London. Von Washington aus.«
»Und von dort aus wohin?«, wollte ich wissen.
»Mehr weiß ich auch nicht. Tut mir leid.« Er zuckte mit
den
Schultern. »Wahrscheinlich ist er unter einem anderen
Namen
weitergereist.«
»Danke, Charles.« Ich tippte ihm auf die Brust. »Hier.«
Ich
reichte ihm eine Einkaufstasche mit den Unterlagen, die ich
von
ihm erhalten hatte. »Ich werde sie nicht mehr brauchen.« Er stellte
die Tasche zwischen seine Beine. »Was, zum Teufel,
hast du vor, Nick? Du weißt, ich habe das aus
Freundschaft
getan. Mit allen anderen Kollegen säße ich jetzt in einem FBIBüro.
Wer ist der Kerl?«
»Sagen wir, ich strebe einen Wechsel meiner Karriere an.
Ich
sage dir später, ob es gut oder schlecht war.«
Harpering zog die Nase hoch und ergab sich seinem
Schicksal.
»Ich verstehe, was du mit der Rente meinst. Dann kann ich
dir
genauso gut helfen, Nick – egal, wobei.«
»Was willst du damit sagen?«
Er nahm zwei weitere Blätter aus seinem Koffer und schob
sie
zur Akte, »Kollichs Visumsantrag. In Erinnerung alter
Zeiten.
Und nebenbei bemerkt, er wurde nicht in Tallinn in
Estland
gestellt, Nick, sondern in Tel Aviv.«
Ich blinzelte. »Jesses.«
»Und es kommt noch besser.« Harpering ließ die Akte auf
meinen Schoß fallen. »Natürlich nur für den Fall, dass du
versuchst, ihn zu finden. Viel Glück, Nick.« Harpering
erhob
sich. »Gib dem Schwein von mir einen Tritt in die Eier.« Ich
blickte auf meine neue Akte hinab. Auf dem Visumsantrag
stand eine Adresse. Yehudi Street 225.
Haifa.
Richard Nordeschenko dachte auf der Terrasse mit seinem
Sohn
über einen Schachzug nach, als an der Haustür geklingelt wurde.
Weil Mira beim Einkaufen war, bat er Pavel, an die Tür zu
gehen.
Nordeschenko genoss sein neues Leben. Er hatte sein Mobiltelefon
ins Meer geworfen und den zwei Kontakten, denen er noch
vertraute, gesagt, er arbeite nicht mehr. Endgültig.
Jeden Tag ging er im Mittelmeer schwimmen. Er holte
seinen
Sohn von der Schule ab und brachte ihn zum Schachspielen,
abends führte er Mira in die schicken Läden und Cafés im
Karmel-Center aus. Er versuchte zu verdrängen, dass er erst
vor
ein paar Wochen ungestraft bei einem Verbrechen davongekommen war,
das die Titelseiten aller Zeitungen gefüllt hatte. »Vater! Da ist
ein Mann!«
Langsam stemmte sich Nordeschenko aus seinem Sessel und
ging ins Wohnzimmer. Es hätte genauso gut ein
Mossad-Agent
sein können, den er dort stehen sah.
»Hallo, Remi.«
»Was machst du denn hier?« Nordeschenko schnappte nach
Luft und wurde aschfahl im Gesicht. Reichardt war zu ihm
nach
Hause gekommen.
»Ich reise umher, Remi. Ein paar Sehenswürdigkeiten anschauen. Die
Gastfreundschaft alter Freunde ausnutzen.« Er wandte sich an Pavel.
»Geh zurück zum Schachbrett, mein
Sohn. Ich habe meinen Zug gemacht.«
Der Junge zögerte.
»Geh, habe ich gesagt«, wies Nordeschenko ihn in
schärferem
Ton an.
Pavel schluckte. »Ja, Vater.«
Als der Junge gegangen war, wandte sich Nordeschenko
wieder dem Mann an der Tür zu. Er spürte, wie seine Anspannung
zunahm. »Bist du wahnsinnig? Komm rein, schnell.« Er
blickte über Reichardts Schulter auf die Straße. »Bist du
sicher,
dass dir niemand gefolgt ist?«
»Entspann dich, Remi«, beruhigte ihn Reichardt. »Ich bin
über
drei Länder eingereist. Ich bin schon so lange im Geschäft
wie
du. Du hast einen hübschen Sohn.«
»Hier heiße ich nicht Remi.« Nordeschenko blickte ihn
streng
an. »Ich heiße Richard.«
Reichardt trat ein und stieß angesichts des
sensationellen
Ausblicks einen bewundernden Pfiff aus. »Das Geschäft
muss
gut laufen, Richard.«
»Das Geschäft ist beendet«, meinte Nordeschenko. »Und
damit eins schon mal klar ist: Meine Frau und mein Sohn …« »Keine
Sorge«, wimmelte Reichardt ab. »Ich werde nicht zur
Last fallen. Du hast gesagt, dies hier sei der ruhigste Ort
der
Welt. Es werden nur ein paar Tage sein. Bis sich die Welt
beruhigt hat.«
Das war etwas, was Nordeschenko nicht gefiel. Es
verletzte
alle vereinbarten Regeln. Aber hatte er eine Wahl? Es gab
keine
Möglichkeit, ihn und Reichardt mit den USA oder auch miteinander in
Verbindung zu bringen.
»Also gut«, räumte Nordeschenko ein. »Nur ein paar Tage.« »Danke.
Allerdings hast du eine Sache missverstanden, Remi.«
»Und die wäre?«, fragte Nordeschenko und schnappte sich
eine von Reichardts Taschen.
»Unser Geschäft.« Reichardt seufzte. »Es ist nie zu Ende.« Der
Lautsprecher knackte. »Delta Flug 8976 nach Tel Aviv –
das Flugzeug steht zum Einstieg bereit.«
Ich wartete an Flugsteig 77 und schaute mich suchend um.
Mein Herz raste. Ein Blick auf meine Uhr. Ich musste an
Bord,
ob mit oder ohne Andie.
Wo steckte sie?
Vielleicht hatte sie es sich anders überlegt. Das wäre in Ordnung,
sagte ich mir. Es wäre schlau von ihr, sich aus der Sache
rauszuhalten. Es wäre schlau von ihr, mich das tun zu
lassen,
was getan werden musste.
»Alle Sitzreihen, Delta Flug 8976 nach Tel Aviv«, meldete
die
Stimme im Lautsprecher.
Ich hatte keinen konkreten Plan, hatte keine Ahnung, was
ich
nach der Landung tun sollte. Woher auch? Ich wusste
lediglich,
dass ich Kolya Remlikov finden und dazu bringen wollte, mir
zu
verraten, wo Cavello steckte. Ohne professionelle
Höflichkeit,
ohne Genfer Konvention. Ich würde ihm die Mündung meiner
Waffe in den Mund stecken und den Hahn spannen. Ich würde
ihm eine Kugel durch die Kniescheibe jagen, wenn es sein
müsste. Er würde reden. Die Frage war nur: Und dann? Eine schwarz
gekleidete chassidische Familie eilte erleichtert
an mir vorbei zum Einstieg. Sie schienen die Letzten zu sein.
Ich
blickte den Gang hinunter. Nichts. Ich hängte mir das Handgepäck
über die Schulter, um an Bord zu gehen.
Es war doch besser so, oder?
Dann sah ich sie. Sie kam auf mich zugerannt, war immer
noch ein gutes Stück entfernt.
Ich war erleichtert. Wem hatte ich eigentlich was
vormachen
wollen? Ich wünschte mir doch, dass sie mitkam.
Andie trug eine rote Lederjacke, ihr Haar steckte unter
einer
Kappe der Knicks – Jarrods Kappe –, über ihrer Schulter
hing
eine Reisetasche. Sie war unglaublich schön. Und tapfer.
Auf
einmal war mir klar, dass ich diese Sache nicht hätte
alleine
durchziehen können. Ich wollte sie bei mir haben. Sie gab
mir
das Gefühl, dass es richtig war, was ich tat.
»Eins lass uns klarstellen«, versuchte ich einen Witz zu
reißen,
als sie mich erreicht hatte. »Wenn das hier der Altar
wäre,
würden wir uns jetzt die Kosten für die Hochzeitsfeier
zurückerstatten lassen.«
»Tut mir leid, Nick. Ich musste mich noch verabschieden.
Von
Jarrod.«
Das brachte mich schnell zum Schweigen.
Sie schüttelte reumütig den Kopf. »Eigentlich saß ich die
letzte
Stunde am Terminal neben dem Burger King.«
»Um es dir noch mal zu überlegen?«
»Ich weiß nicht, vielleicht. Aber über eins bin ich mir
ganz
sicher. Ich liebe dich, Nick.«
Ich stand da und blickte in ihre glänzenden Augen. Ich
nickte
und legte sanft meine Hand an ihre Wange. »Genau das habe
ich
auch gedacht. Dass ich dich liebe. Dass ich ohne dich nicht
ins
Flugzeug steigen könnte.«
»Mir war klar, dass du das neulich abends sagen wolltest,
als
du so rumgestottert hast.«
Der Lautsprecher unterbrach uns – der letzte Aufruf, an
Bord
zu gehen. Wir standen noch da, während die Angestellten
begannen, den Schalter zu schließen.
»Und, was machen wir jetzt?« Ich zuckte mit den Schultern
und trat unsicher von einem Bein aufs andere.
Andie kam mit ernstem Blick einen Schritt auf mich zu und
ergriff meine Hand.
»Einsteigen. Wir verreisen gemeinsam, Nick. Ist das nicht
aufregend?«